Wenn man als eher unsportlicher Mensch sportpolitische Diskussionen rund um die tägliche Turnstunde an den Schulen interessiert verfolgt, selbst jedoch weder ein goldenes Leichtathletikabzeichen, auch keinen Rettungsschwimmerausweis und schon gar keine aufschneiderischen Skilehrer – Erlebnisgeschichten („damals auf der schwarzen Piste“) im Erinnerungsrepertoire hat, kann man sich doch entspannt und vielleicht auch mit Grauen an den Turnunterricht zurück erinnern, welcher in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch „Leibesübungen“ hieß.
Beim im Öffnen des Erinnerungsschließfaches fällt mir als erstes dieser bestimmte Schockmoment entgegen. Der Moment, von einer Turnsaalgarderobe (mit einem Geruch wie der einer seit drei Wochen nicht geöffneten Sporttasche), in einen auf minus 5 Grad winterlich gelüfteter Turnsaal hineinzulaufen. (Lange Zeit dachte ich, dass sei der eigentliche Grund wieso man sich vor dem Sport aufwärmen muss)
Ich sehe schwere braune Medizinbälle (wieso heißen die eigentlich so?), von der Decke herabbaumelnde seeehr lange Seile, Sprossenwände mit Schweißfilm von all den zuvor turnenden und schwitzigen Kinderklammerhänden, und mich selbst wie ein ungelenkiger Cowboy oben am Sprungbock sitzen (mehr Schwung nehmen!!“). Ich sehe Warzen die sich an den Fußsohlen bildeten, da sich die Turnschuhe im Turnsackerl befanden, welches zum Zeitpunkt der Turnstunde der Straßenbahn Endstation entgegenfuhr und in der Fundgrube landete.
Noch heute jagt es mir einen Schauer über den Rücken, bei dem Gedanken, ohne zu duschen und mit verschwitzten Achseln den frischen Pullover überzuziehen und gleich danach eine Mathematik Schularbeit zu schreiben. Es gab zwar Duschen in den Garderoben, doch wer denkt schon morgens mit schulbedingtem Müdigkeitshintergrund an das Einpacken eines Handtuchs? Und überhaupt, sich nackt zeigen? In einer Zeit als Bravo Hefte noch heimlich unter dem Bett versteckt wurden und das Wort Teenager fast schon verrucht klang. Eher nicht.
An den Namen meiner Turnlehrerin erinnere ich mich nicht mehr. Ich nenne sie hier einfach Miss Sporty, da sie natürlich ein sehr sportlicher Mensch war. Wahrscheinlich ist sie es ja noch immer, sofern die Lahmarschigkeit ihrer ehemaligen Turnschülerinnen sie nicht an den Rand der Verzweiflung oder sogar in eine eigene Sportlustlosigkeit getrieben hat. Sie war nicht besonders groß, trug jeden Tag eine weiße Jogginghose, weißes T-Shirt und das Trillern ihrer Pfeife habe ich heute noch im Ohr. Miss Sporty kannte kein Pardon. Ängste vor abgebrochenen Fingernägeln oder schwitzenden Achseln waren für sie kein Grund die Stunde sitzend auf einer der seitlich stehenden Turnbänke zu verbringen. Als reine Mädchengruppe im Turnunterricht fanden wir jedoch recht schnell heraus, dass es einmal im Monat möglich war, zu Beginn der Stunde beim Rapport, kurz und laut einfach nur „M“ zu rufen, um es sich auf besagter Turnbank am Rande gemütlich zu machen, um dort mit den anderen „M´s“ über die am Vorabend ausgestrahlte 258. TV Folge „Dallas“ eine Unterhaltung führen zu können. „M“ war das Codewort für Menstruation und für Miss Sporty scheinbar der einzige gesellschaftlich anerkannte Turnverhinderungsgrund.
Mit der Zeit wurden die sitzenden „M´s“ auf der Turnbank allerdings immer mehr, und als eines Tages fast die ganze Klasse scheinbar zufällig ihre Tage hatte, komischerweise auch schon in der Woche davor, was anatomisch fragwürdig ist, verlor sie schon mal die Fassung.
In den Siebziger/Achtzigern war man noch weit von der Diskussion um die tägliche Turnstunde entfernt.
Wien war gemächlich.
Der TV Liebling der Erwachsenen war ein sehr beleibter Hotel Sacher Portier, der bei der Schlüsselausgabe ins Schnaufen geriet, bei der jüngeren Generation der faule Willi aus der Serie Biene Maja. Fußballspielen im Park oder im Hof war verboten, Beckensprünge vom Bademeister untersagt, und die Regierung bestand aus einer (e i n e r ) Partei.
Manches ist geblieben (Beckensprung- und Fußballspielverbot). Aber vieles hat sich verändert.
Die Regierung besteht aus mehreren Parteien und es gibt ein Sportministerium.
Die tägliche Turnstunde ist Thema, Sportvereine werden gefördert und stellen ihren Sport an den Schulen vor. Nicht nur die Sportstars, auch Schülerligen bekommen Platz im Fernsehprogramm (kurz aber doch). In einen Sportverein oder ein Fitnesscenter zu gehen ist hip. Man geht nicht ins Training sondern ins „work out“. Kapuzensweater heißen „Hoodies“ und Turnschuhe „Sneakers“.
Statt fader Turnsackerl schultert man schicke „Sackpacks“, welche deshalb auch nicht mehr in der Straßenbahn vergessen werden.
Zurückgeblieben ist meine Erinnerung an damals, und die Erkenntnis, dass Miss Sporty es gut gemeint hat.
Denn mit ein paar Sporturkunden im Schrank könnte man nicht nur angeben, sondern sich später auch mehr Respekt verschaffen.
Denn wer einige Jahre später vor den eigenen Kindern nicht als Looser dastehen möchte („die Mama muss sich abstützen hahaha!“), da man es nicht schafft geraden Rückens im Kreuzsitz das Gleichgewicht zu halten, sollte früh beginnen, im Turnunterricht nicht lahmarschig zu sein, und am besten auch noch einem Sportverein beitreten.
Gefällt mir Wird geladen …